Wunder


Der Aufzug bewegt sich elendig langsam. Und dann auch noch in die falsche Richtung. Ich blicke auf die Uhr an meinem Handgelenk. Die Zeiger bewegen sich im Gegensatz zu diesem Faultier von Maschine mit einer geradezu gehässigen Geschwindigkeit. 
Ungeduldig trete ich von einem Bein aufs andere und schaue zu der Rolltreppe, die für mich nicht zugänglich auf der anderen Seite der Glasscheibe fröhlich vor sich hinrollt. Ich blicke wieder auf die Anzeige des Aufzugs. Er hat es immerhin bereits in den zweiten Stock geschafft. Mit leichtem Auf- und Abspringen versuche ich, den Aufzug zu einem schnelleren Bewegungsablauf zu motivieren. Unbeeindruckt schleicht er die letzten Meter zu mir hinauf. Selbst die Türen öffnen sich quälend langsam. Ich steige ein. Drücke den Knopf für den ersten Stock, dann auf den Knopf "Tür schließen". 
Der Erbauer kann diesen Aufzug nur als "Zen-Meditations-Übung" gemeint haben. Weder mein Hüpfen noch mein panisches auf die Uhr Schauen scheinen ihn sonderlich zu beeindrucken.
21:39. Die Aufzugtüren öffnen sich. Ich stürme auf die Ausgänge zu. Respektvoll treten die Glastüren zur Seite. Gut so. Ich hätte auch nicht bremsen können.
Ich schaue mich um. Zwei Stationen weiter sehe ich den Bus nach Kyoto und breche nun mit jeder Regel, die besagt, dass man nicht rennen soll. Wie ein Berserker rase ich auf den Bus zu. Aber die Tür schließt vor meinen Augen und mit einem Quietschen setzt sich der Bus in Bewegung. Der Schaffner der Haltestelle stößt noch ein überraschtes Oh! aus, aber schüttelt dann nur noch den Kopf. Ich sacke in die Knie. Das darf nicht wahr sein.
Aus dem Augenwinkel sehe ich wie der Bus noch einmal anhält, weil ein anderer Bus ihm den Weg versperrt. Jetzt oder nie. Ich verabschiede mich auf dem Weg von meinem letzten Rest Würde und renne zur Bustür. Schlage gegen das Glas. Aber der Busfahrer winkt nur ab. Dreht sich um. Und ich wanke zum Bürgersteig zurück, lehne mich an die große Steinsäule und breche in Tränen aus. Die Realität holt mich ein und die Erschöpfung tut ihr Übriges. 
Ich habe gerade meine Mutter am Security Check stehen lassen, um noch einen früheren Bus zu bekommen und jetzt stehe ich hier, hätte diese Zeit noch mit ihr haben können. Hätte so gerne noch zusammen gebetet. Und stattdessen verbringe ich jetzt eine dreiviertel Stunde an einem leeren Flughafen. Ich weine während ich durch die Türen zurück ins Gebäude gehe. Sollen die Japaner denken was sie wollen. Vor den Aufzügen habe ich schon wieder aufgehört mit weinen. Ich bin in der Wutphase angekommen, was der Aufzug auch zu spüren bekommt. In Gedanken würge ich noch den Busfahrer, während ich mich wieder den Sitzplätzen nähere, wo wir eben noch zusammen gewartet haben. Ich lasse mich auf einen der Sitze fallen und starre durch das Fenster in die Dunkelheit.
"Lässt du dir davon den Tag verderben? Hast du vergessen, was du heute erlebt hast? Was ich heute getan habe?" Deine Stimme ist liebevoll, nicht tadelnd und ich merke wie die Wut abläuft, als hätte jemand den Stöpsel aus dem Abfluss genommen. 
Heute war ein Wunder. Diese drei Wochen waren ein einziges Wunder.
"Nein", sage ich zu Jesus, aber ich will, dass der Teufel es auch hört, "davon lasse ich mir den Tag nicht versauen."


Vor genau drei Wochen habe ich meine Mutter am Flughafen von Osaka in Empfang genommen. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch fliegen konnte. Genau an dem Wochenende brach die Corona-Krise mit aller Wucht in Deutschland aus. Ein paar Tage später wäre sie nicht mehr ins Land gelassen worden. 
Ich hatte Angst vor der Zeit. Ich wusste nicht wie es werden würde. Das erste Mal Japan und dann gerade zur Zeit von Corona? Man kann sich schönere Zeiten vorstellen. 
Aber was wir erleben durften waren drei Wochen, die so schön waren, wie ich es mir nicht hätte träumen lassen. Ich habe meine Prüfungen mit Bestnoten abschließen können. Gemeinsam sind wir dann nach Nagasaki gereist und über Fukuoka, Hiroshima und Fukuyama wieder zurück nach Kyoto. Natürlich immer mit Atemschutz und Desinfektionsmittel bewaffnet, aber die meisten Japaner waren noch recht entspannt. 
Die Frage blieb, ob der Flug gestrichen werden würde. Wie würde meine Mutter wieder zurück nach Deutschland kommen? Aber immer wieder hatten wir im Gebet den Eindruck, dass Gott sagte: Macht euch keine Sorgen. Ich habe dich hier her gebracht. Ich werde dich auch wieder zurück bringen.
In Fukuyama erreichte uns dann die Nachricht, dass der Flug gestrichen wurde und bis gestern wussten wir nicht, ob der Flug, den wir stattdessen gebucht hatten tatsächlich gehen würde. Aber wieder haben wir beide gehört, dass Jesus meinte: Vertraut mir. Ich kümmere mich darum. Du wirst heute zurück fliegen. 
Beim Check-In kam dann raus, dass die Anmeldung nie eingetragen wurde, aber weil der ursprüngliche Flug gestrichen wurde und noch Platz im Flieger war, wurde meine Mutter kostenlos eingebucht und ich durfte sie ein letztes Mal vor dem Security-Check in die Arme nehmen. 
Es gehen kaum noch Flieger. Die Ausgangsregelungen werden auch in Japan langsam strenger. Es war der perfekte Zeitpunkt. Ich habe keinen Tag bereut. Es war ein Wunder und ein Geschenk. 
Now I know. I'm breaking up with regretting - with age. I made a decision. I will have unconditional trust. It's time to be brave. I'm not afraid. Because I believe. Because I'm different from before. I won't cry on my path. I won't hang my head low. That is the sky. And I'll be flying there, fly.                                                                       - BTS, Wings
Der Hafen von Nagasaki
Fukuoka
Hiroshima
Tomonoura, in der Nähe von Fukuyama

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