Und plötzlich steht die Welt Kopf...

 


Die Brücke im Himmel

"Du musst dich auf diese Bank stellen und durch deine Beine schauen. Dann sieht es so aus als würde die Landbrücke wie eine Brücke am Himmel stehen." Shin macht es mir vor, aber ich kann mich noch nicht so ganz dazu durchringen, mich in diese Position zu bringen. Die Japaner*innen um mich herum haben scheinbar überhaupt kein Problem damit, sich so ablichten zu lassen. Wenn man schon hier ist, muss man das anscheinend so machen. Ich winde mich innerlich. Mein Bauch erhebt große Einwände. Aber schließlich gewinnt doch mein Trotzkopf und ich stelle mich auf die Steinbank. Und plötzlich steht die Welt Kopf...

Und plötzlich steht die Welt Kopf. Ich weiß nicht auf welches Jahr dieser Satz besser zutreffen würde als auf dieses. 2020. Egal ob privat oder global. Ich kenne Keinen, der behaupten könnte, dass dieses Jahr für ihn wie jedes andere gewesen wäre. Wir haben gerade erst Oktober, aber es fühlt sich so an, als würde dieses Jahr schon ein paar Jahrzehnte dauern. 


#2020: Und plötzlich ist alles anders

Als im Januar zu Beginn diesen Jahres in Australien die Waldbrände ausbrachen, da ahnten wir vermutlich noch nicht, dass diese Katastrophe erst der Anfang sein würde. Inzwischen scheint der Januar schon Jahre zurück zu liegen. Zu viel ist passiert in der Zwischenzeit. Brände, Überschwemmungen, Stürme, noch mehr Brände. Alle Ereignisse aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Dazu Corona. Eine Krankheit, die so unberechenbar scheint und sich gerade dann weiter verbreitet, wenn wir meinen, dass wir nicht (mehr) betroffen sind. Und dann brennt es in Moria und in den Köpfen. Es brennt auf den Straßen und in den Herzen. Und man möchte schreien, weil es so frustrierend ist und dann schreien wir uns gegenseitig an. Wir haben gemerkt, dass wir nicht so viel Kontrolle über die Welt und unser Leben haben wie wir dachten. Dass wir nicht so viel Kontrolle über Leben und Tod haben, wie wir gerne hätten. Aber auch, dass es Menschen gibt, die in dieser Situation versuchen, die Kontrolle über unsere Gedanken an sich zu reißen und Feindbilder in uns säen, wenn es eigentlich Zeit wäre, zusammen zu stehen und gemeinsam Menschenleben zu schützen. 

Dieses Jahr war wie ein Lupenglas, das uns mit brutaler Ehrlichkeit die Probleme vor Augen geführt hat, die schon die ganze Zeit bestanden, aber die wir lieber nicht so genau angeschaut haben. 

#Zuhause: Überall und nirgends

Als meine Mutter mir im Februar eine Nachricht schickte, in der sie mir sagte, dass sie von Zuhause ausziehen würde, war ich nicht überrascht. Bereits einen Monat zuvor hatte ich den Eindruck, dass sie diese Entscheidung treffen würde und sie kam für mich nicht aus dem Nichts. Seit Jahren wusste ich um die Schwierigkeiten in der Ehe meiner Eltern, auch wenn mir die Details nicht immer klar waren.
Viele von uns wachsen bereits als Scheidungskinder auf und ich bin persönlich dankbar, dass ich meine Eltern viele Jahre für ihre Ehe habe kämpfen sehen. Aber die Tatsache bleibt, dass Scheidung etwas auseinander reißt, das eigentlich dafür bestimmt war, ein Leben lang zu halten. Es mag Scheidungen geben, die wichtig sind, aber es gibt keine Scheidung, die 'gut' ist. Als Kind stehe ich vor der Ehe meiner Eltern und muss jetzt für mich sortieren. Was sind hilfreiche Tipps, die sie mir gegeben haben, um gute  und gesunde Beziehung zu leben und welche Ratschläge muss ich vergessen. Welches Werkzeug habe ich an die Hand bekommen, um Menschen aufzubauen und wo habe ich möglicherweise einen falschen Umgang mit manchem Hammer gelernt? Wo ist meine Welt auf den Kopf gestellt und wie kriege ich sie wieder in Normalposition? Dass ich für diese Zeit in Japan sein durfte, weit weg und trotzdem nicht abgeschnitten, war ein echter Segen. Dass ich in dieser Zeit wissen durfte, dass Menschen für mich beten, hat mir Kraft gegeben und vor allem habe ich mich darauf verlassen können und erlebt, dass Gott mich nicht allein gelassen hat. In allem Fragen und schmerzlichen Abschied nehmen war er dabei.

In diesem Jahr musste ich lernen, dass es nicht meine Aufgabe ist, zwischen meinen Eltern zu vermitteln und dass mein Zuhause nicht ein Haus in Oberursel ist, sondern bei den Menschen, die mich in ihrem Herzen tragen. Und schließlich ist mein letztes Zuhause bei dem dem, der mich geschaffen hat. 

#Schmetterlinge: im Bauch und Bienen im Herzen

Es scheint beinahe unvernünftig, dass ich ausgerechnet in dieser Zeit den Schritt in eine Beziehung gewagt habe. Ausgerechnet in einer Zeit in der mir so vor Augen geführt wurde, dass der Mensch keine oder nur begrenzt Kontrolle über sein Leben hat. In einer Zeit in der sich meine Eltern trennen, mit jemandem über Ehe zu reden hat so manche Angstwelle in mir ausgelöst. Aber vielleicht war es gerade deshalb der beste Augenblick, um mit dem heil werden anzufangen. 

"Wenn du von der Illusion geheilt werden möchtest, perfekt zu sein, musst du heiraten." Ich ahne, dass diese Worte wahr sind. Denn in diesen 3 Monaten habe ich so einige Male den Spiegel vorgehalten bekommen. Du kannst niemanden täuschen, der dir so nah ist. Der Andere bekommt all das mit, was du bis dato zu verheimlichen versucht hast und man selber wird auf einmal mit den Fehlern des Anderen konfrontiert. Wie umgehen mit so viel Gebrochenheit und Unperfektheit? 

Liebe ist geduldig und freundlich.
Sie ist nicht verbissen, sie prahlt nicht und schaut nicht auf andere herab. 
Liebe verletzt nicht den Anstand und sucht nicht den eigenen Vorteil,
sie lässt sich nicht reizen und ist nicht nachtragend.
Sie freut sich nicht am Unrecht, 
sondern freut sich, wenn die Wahrheit siegt.
Liebe nimmt alles auf sich, 
sie verliert nie den Glauben oder die Hoffnung
und hält durch bis zum Ende.
Die Liebe wird niemals vergehen.  
1. Korinther 13,1

In diesen 3 Monaten durfte ich lernen, dass nicht alle Vorurteile, die ich im Laufe der Zeit über Männer angehäuft habe, stimmen müssen und dass es nicht darum geht, den perfekten Partner zu finden, der einen dann bis zum Ende seiner Tage glücklich macht. Liebe nimmt uns an, wie wir sind, aber sie lässt uns nicht wie wir sind. Ich durfte viele meiner idealistischen Vorstellungen loslassen und habe Freude gefunden an den peinlichen Momenten. Ich lerne, unsere Unterschiede nicht als Hürden, sondern als Stufen zu sehen, die uns weiter bringen und Meinungsverschiedenheiten als Möglichkeit aus meinem eigenen Denken auszubrechen und neue Perspektiven einzunehmen. Aber auch mit allem Bemühen bleibt es allein Gnade, wenn wir es schaffen, diesen Weg gemeinsam zu gehen.

#MeineZeit: steht in deinen Händen

Vor genau einem Jahr bin ich in Japan angekommen. Ich hatte jede Menge guter Vorsätze und großer Pläne im Gepäck. Ich frage mich, warum ich so lange der Idee hinterher gelaufen bin, ich würde ein anderer Mensch, nur weil ich meinen Wohnort wechsle. Nach Kyoto zu ziehen hat mich nicht auf einmal mutiger, hilfsbereiter, zugewandter und sprachbegabter gemacht. Und die schönen Ideen von Kulturstudien und aktiver Gesprächspraxis zerschellten sehr schnell am Riff der harten Realität von Kulturschock und Sprachbarriere. Ich war immer noch schüchtern, immer noch deutsch, immer noch lieber am Computer als unter Menschen und immer noch eher an mir selber als an anderer Leute Probleme interessiert. Ich habe gelernt, dass Liebe und Hilfsbereitschaft wachsen, wenn wir sie praktizieren, nicht wenn wir darauf warten, dass wir uns danach fühlen. Ich habe gelernt, dass Gott mir nicht immer das beibringt, was ich lernen will, aber immer das, was ich lernen muss. Und wieder stand auf dem Lehrplan: 
Vertrauen. Gott regiert. Stolz ablegen. Gott vergibt. Vertrauen. Gott gibt Hoffnung.

Gott regiert. Jesus läuft auf dem Wasser. Dieses Bild hat mich unzählige Male getröstet während dieses letzten Jahres. Auch wenn ich Angst habe, unterzugehen, können Gott die Wellen nichts anhaben. Meine Stürme werfen ihn nicht aus der Bahn. Meine Zweifel schwächen ihn nicht und meine Fragen stoßen ihn nicht ab. Meine Angst bestimmt ihn nicht und meine Wut hält er aus. Er ist wie ein Fels in der Brandung. Meine Wellen verrücken ihn nicht. Er war und ist und wird sein und keine Macht der Welt kann mich von seiner Liebe trennen.

Gott vergibt. Es erscheint geradezu schizophren wie ich zwischen Selbstzweifeln und Stolz hin und herschwanken kann. Ich hatte wahrlich genug Gründe, an mir selber zu verzweifeln: Das Japanisch-Studium, das mich häufig unsagbar frustriert hat. Charakterliche Schwächen. Frustrationsintoleranz. Körperliche Schwäche. Unzufriedenheit mit meinem Äußeren. Etc. pp. Meine Strategie mit diesen Selbstzweifeln umzugehen, war übermäßiger Stolz in den Regionen, in denen ich vermeintlich 'punkten' konnte: Als Theologin unter Laien. Als selbstkritische Denkerin. Als weitgereiste Kulturkennerin. Als Laienpsychologin. Ich überspitze, aber es ist nicht weit zur Wahrheit. Ich habe versucht, mir mein eigenes Selbstbild zu basteln. Ich habe versucht, meine schlechten Eigenschaften mit schönen Stickern zu überkleben und meinen Stolz mit meinen Selbstzweifeln zu entschuldigen. Aber weder Selbstzweifel noch Stolz sind Gefühle, die aus Liebe geboren werden. Weder Selbstzweifel noch Stolz erkennen, dass es in dieser Geschichte nicht um mich geht. Diese Geschichte handelt von Gott und davon, dass er die Welt so geliebt hat, dass er seinen eigenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Bei ihm kann ich meine Selbstzweifel und meinen Stolz ablegen, weil er mir die Würde gibt, die mir niemand nehmen kann.

Gott gibt Hoffnung. 2020 lehrt uns, dass wir nicht wissen, was in Zukunft kommen wird. Wir können planen, aber es wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so kommen, wie wir wollen. Ich habe in diesem Jahr meine Schwächen kennen gelernt und Gottes Stärke. Ich habe gelernt, dass ich Japan nicht das Land meiner Träume ist, aber dass Gott hier ist und wirkt. Ich habe gelernt, dass Gott nicht meine Stärke braucht, aber das er meine ehrliche Schwäche gebraucht. Ich habe gelernt, dass meine Sicht auf die Japaner viel zu negativ war und dass Gott mich beim Wort genommen und mir durch meine japanischen Freunde viel über das Leben beigebracht hat. Ich habe gelernt, wie wunderschön Vergebung und wie befreiend Versöhnung ist. Mit Menschen und mit Gott. Und ich habe gelernt, dass meine Zukunft ungewiss ist, aber dass Gott gewiss ist und ich deshalb mit Mut und Freude in diese Zukunft mit ihm gehen kann. Nicht weil Gott mich glücklich macht, sondern weil Gott gut ist und es mein größtes Glück ist, wenn ich bei ihm bin. 

#Abschied

In 7 Tagen werde ich (so Gott will und die Corona-Maßnahmen mich lassen) in Osaka in den Flieger steigen und in die deutschen Gefilde zurückkehren. Das Jahr, das zu Beginn noch so unendlich lang schien, hat sich in den letzten Wochen rasant dem Ende genähert. Ich packe meine Koffer und nehme mit: Liebe, Glaube und Hoffnung. 

Liebe für die Menschen, die ich hier kennen lernen und Dankbarkeit für die Freundschaften, die ich während dieser Zeit schließen durfte. Ich bin dankbar für die vielen gemeinsamen Abende, Wanderungen und Gebetszeiten. Ermutigungen und Ratschläge. 

Glaube an einen Gott, den ich in meinen dunkelsten Momenten erleben durfte. Glaube und Vertrauen, dass er seine Versprechen hält und dass seine Liebe für dieses Land unendlich viel größer ist als meine. Glaube und Wissen, dass es nicht an mir liegt, dass ich gerettet werde und dass nicht ich es sein werde, die die nächste Erweckungsbewegung auslösen muss. Allein Gott.

Hoffnung auf ein Leben, das nicht einfach, aber das Beste sein wird. Hoffnung, wenn ich sehe was Gott hier in Japan tut und Hoffnung wenn ich sehe wie Menschen ihn kennen und lieben lernen. Hoffnung, wenn ich meine ganzen Schwächen sehe und erkenne wie wenig ich weiß. Es gibt noch so viel zu lernen und zu entdecken! 

 Das Kapitel "Sprachschule in Japan" ist bald zu Ende. Das neue Kapitel kenne ich noch nicht. Vielleicht begegnen wir uns ja darin. ;)

Und ich sehe eine Welt, die auf dem Kopf steht und ich sehe die Brücke im Himmel. Ich sehe den Himmel auf Erden und die Erde im Himmel. Und dann steht die Welt wieder richtig rum. 

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