Er ist kein zahmer Löwe.

Die Sonne brennt heiß auf den heißen Asphalt. Die Luft ist voll sommerlicher Gerüche und die Straße liegt unbefahren vor uns. Eigentlich sehr ungewöhnlich für einen so schönen Tag wie diesen. Normalerweise wimmelt es zu dieser Zeit von Fahrradfahrern und Spaziergängern, aber so ist es auch viel besser, die Welt gehört uns! Stunden vergehen. Die Zeit hat keinen Platz in dieser Welt der Fantasie.
Ich höre ihn, bevor ich ihn sehe. Mein Magen zieht sich zusammen und auch mein Hals ist zugeschnürt. Ich weiß nicht wo er ist, aber er kommt näher. Mein Kopf legt mir den Soundtrack: Ein Streichquartett spielt in meinem Kopf während ich wie erstarrt die Straße hinunter blicke. 
Endlich gelingt es mir mich loszureißen und ich fange an zu rennen. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich schnappe meine kleine Schwester und die Nachbarstochter und jage so schnell wie meine Beine mich tragen die Straße hinauf auf unser Haus zu. Auch wenn ich ihn nicht sehe, weiß ich, dass er bereits die Straße erreicht haben muss, auf der wir gerade rennen und mein Herz klopft mir bis zum Hals. Nur noch wenige Meter, da höre ich ihn brüllen und ich weiß, es ist aussichtslos. Trotzdem gebe ich nicht auf. Wir stürzen auf den Hof vor unserem Haus. Die Tür ist angelehnt, wie immer. Ich lasse die beiden Jüngeren vor mir die Treppe rauf. Da höre ich ihn hinter uns. Ich sehe gerade noch wie die beiden Anderen die letzten Stufen nehmen, dann höre ich ihn in unserem Hauseingang. 
Ich stehe mit dem Rücken zur Wand auf dem ersten Treppenabsatz. Langsam kommt er auf mich zu und setzt eine Tatze behutsam vor die andere, mich lauernd taxierend. Voller Panik sehe ich seine Augen, seine Schnauze, seine riesigen weißen Zähne und seine Stimme ist tief als er fragt: "Bist du ein Kind?" Dann macht er einen Satz. Alles wird dunkel.

Wer sich nach dieser kleinen Geschichte denkt: Was zur Waldfee habe ich gerade gelesen: Welcome to my dreamworld.
Diesen Traum hatte ich eine ganze Zeit lang als ich zwischen 8 und 10 Jahren alt war. Und immer passierte das Gleiche. Ich spiele. Ich höre gruselige Musik. Ich weiß, dass gleich der Löwe kommt. Er kommt. Ich rette meine Schwester. Ich werde gefressen. Und gerade diese Unabwendbarkeit meines Schicksals hat mich wahnsinnig gemacht. Ich wusste, ich würde dem Löwen nie entkommen können.
Am vergangenen Mittwoch fand in der ESG (Evangelische Studien Gemeinde) Marburg das CrissCross statt, eine Veranstaltung, die von 5 unterschiedlichen Studentengemeinden gemeinsam organisiert wird und die dazu dienen soll, den Ausstausch zwischen den jungen Christen in Marburg zu stärken, Bekanntschaften zu machen und sich über die spiritualität der einzelnen Gemeinden zu unterhalten.

Nach einer kurzen Einleitung des Studentenpfarrers der KHG (Katholische Hochschul Gemeinde) und einem Aufwärmspiel des CT (Christus Treff) ging es erstmal in den Nebenraum, wo wir bestimmt 30 frisch (bestellte) Pizzen und einen großen Tisch voller Rohkost und Fruchtspieße antrafen.
Nach dem Festmahl gab es eine Stunde lang die Möglichkeit an den verschiedenen Workshops der einzelnen Gemeinden teilzunehmen. Ziel davon war unterschiedliche Wege aufzuzeigen, wie wir im Glauben wachsen können durch geistliche Übungen, Kreativität, oder Musik.
Ich war zuerst in dem Workshop "Stundengebet" der KHG.
Das Stundengebet geht zurück auf die Tradition im Judentum, drei mal am Tag zu beten und wurde als Antwort der Kirche auf den Vers "Betet ohne Unterlass" (1. Thess 5,17) eingeführt. Allerdings wird statt drei mal sieben mal am Tag gebetet und zwar, der jüdischen Tradition folgend, indem die Psalmen gesungen werden.
Workshop des CT: Bible Art
Ich bin kein besonderer Fan, liturgischer Gesänge, oder Weihräucherungen, aber der Gedanke, regelmäßige Gebetszeiten zu haben, um mich mehrmals am Tag an Gott zu erinnern, fand ich doch sehr faszinierend und motivierend. Darum kamen ein Kommilitone und ich auf die Idee in stark abgewandelter Form ein Morgen und ein Abendgebet einzuführen.
Jeden Morgen stehen wir also um sechs Uhr auf und gehen jeder eine halbe Stunde im Wald spazieren. Und jeden Abend tauschen wir uns über den Tag und mögliche Gebetsanliegen aus und beten dafür.

Eines Morgens erzählte mir der Freund von dem Traum, den er in dieser Nacht gehabt hatte.
Er hatte geträumt er sei mit einem Tier, zu Beginn des Traums dachte er noch, es sei sein
Hund, spazieren gegangen. Plötzlich stürzte ein Vogel vom Himmel in den Wald. Das Tier lief in den Wald hinein, aber als es wieder hinaus kam trug es einen Bären in der Schnauze, den es erschlagen hatte. Als das Tier vor ihm her rennt erkennt er plötzlich, dass es ein Löwe ist. Als einige Minuten später ein Hirsch auf den Löwen zuläuft, holt dieser mit seiner Pranke aus und schlägt dem Hirsch gegen den Kopf, sodass er stirbt. Verängstigt rennt der Freund weg und der Löwe kommt hinter ihm her. Aber als er ihn einholt, nimmt er ihn zärtlich bei der Hand und führt ihn weiter.

Als ich diesen Traum gehört habe, hatte ich erstmal eine Gänsehaut.
Und als wir dann im Wald drin waren hatte ich wirklich Angst. Jeder knackende Ast, jeder Regentropfen auf den Blättern brachte mich zum zusammen zucken. Ich betete und hoffte, dass Gott mir den Traum erklären würde und vor allem, dass er meine Angst weg nehmen würde. Ich dachte: Steht nicht in der Losung, dass wir „Hausgenossen“ Gottes sind? Sollte ich mich gerade nicht gut fühlen?
Matthias Jorissen schrieb den Text der unter den beiden Losungstexten dieses Tages stand: „Die Schwalb, der Sperling find't ein Haus, sie brüten ihre Jungen aus, du gibst Geborgenheit und Leben, Herr Zebaoth, du wirst auch mir – mein Herr, mein Gott, ich traue dir – bei deinem Altar Freude geben. O selig, wer dort allezeit in deinem Lobe sich erfreut.“
Aber bei mir war weit und breit nichts von Geborgenheit oder Freude zu spüren. Es war die nackte Angst.
In meinem Kopf lief währenddessen die ganze Zeit das Lied von Albert Frey: Gott, warum sind wir nur so blind? Wenn wir nur sehen könnten, wie du wirklich bist!
Ich hab mich total gegen diesen Text gewehrt. Ich wollte nicht sehen. Ich hatte Angst davor was ich sehen würde. Ich wusste ich würde vor Angst zusammenklappen, wenn ich etwas sehen würde, dass meinen menschlichen Horizont überstieg. Aber der Text ließ mich nicht los. Immer wieder kam er hoch bis ich ihm schließlich auf dem Weg durch die Zeilen folgte: „Wenn wir nur sehen könnten, wie es wirklich ist! Doch wir erkennen nur den Umriss im Licht der Ewigkeit. Bis dann reichen Glaube, Liebe, Hoffnung durch die Zeit.“
Der Löwe in Dennis Traum hatte mir Angst gemacht, weil ich noch nicht ganz verstand. Ich hatte eine Ahnung gehabt, dass der Bär vermutlich hätte gefährlich werden können und dass der Hirsch für Stolz stehen könnte, aber trotzdem schien mir die Situation etwas makaber, vor allem da ich bisher von Traumlöwen immer nur gefressen worden war und dieser Löwe nahm „meine“ Hand?
„Er ist kein zahmer Löwe“ schrieb C.S. Lewis in seiner Chronik von Narnia über Aslan. Gott ist kein zahmer "Löwe". Wir verstehen häufig nicht was Gott vorhat, warum manche Dinge geschehen und warum manche nicht.
Ich glaube wir haben manchmal fast zu wenig Angst vor Gott. Oder vermutlich besser gesagt: „Ehrfurcht“. Wir ruhen uns auf dem „Gott liebt dich“-Mantra unserer Zeit aus. Wir nehmen nicht mehr wahr, was für ein unglaubliches Geschenk diese Liebe ist und dass wir sie eigentlich überhaupt nicht verdient hätten. Im Oktober nächstes Jahr findet das 500 jährige Jubiläum der Reformation statt. Martin Luther suchte im 16. Jahrhundert nach einem gnädigen Gott und traf mit seiner Botschaft: „Allein durch Glauben“ genau in die Frage, der damaligen Bevölkerung. Aber heute? Was sind die Fragen unserer Zeit? Ist so ein Wiederaufbruch wie vor 500 Jahren überhaupt wieder möglich?
Wenn wir uns selber als genügend ansehen, warum sollten wir nach einem Gott fragen?
Erst wenn wir erkennen, wer wir sind und wer Gott ist, werden wir das Ausmaß seiner Liebe zu uns anfangen können zu begreifen.
Ich war also an dem Punkt meiner tiefsten Ehrfurcht seit meinem „Turmerlebnis“ in Ulm. Aber als ich Gott meine Angst eingestand und die Tatsache, dass ich Angst davor hatte ihm gegenüber zu treten, brach etwas in mir auf. Gefühle lassen sich nicht dadurch entfernen, dass wir sie „wegrationalisieren“. Ich hätte den ganzen Weg durchlaufen können und mir sagen können: Da ist nichts. Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird nichts passieren. Und doch wäre ich mit einem Gefühl der Angst aus diesem Wald gekommen.
Ab der zweiten Hälfte begann ich wieder zu singen. Ich wollte ein Lied, dass zugleich meine Angst und Gottes Liebe zu mir deutlich machen würde.
Das war das Ergebnis:

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1. Löwe von Juda. Lamm meiner Schuld.
König der Winde. Voller Geduld.
Ich geh auf die Knie.Vor deinem Thron.
Vor dir dem Vater, dem Geist und dem Sohn.


2. Das Herz eines Löwen. Ich bin der ich bin.
Der König der Welten. Gibt sein Leben hin.
Du hängst dort alleine. Ich stehe hier.
Durchbohrte Hände. Zieh'n mich zu dir.

3. Kein zahmer Löwe.

Lamm ohne Schuld.
König der Himmel.
Deine Geduld.
Nimm meine Angst.
Hol mich hier raus.
Auf Adlerschwingen.
Flieg ich nach Haus.

4. Löwe von Juda.
Lamm meiner Schuld.
König der Winde.
Voller Geduld.
Du nimmst mich an.
Und meine Angst fort.
Ich bin bei dir.
Brauch' sonst keinen Ort.

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Als ich bei der Kreuzung ankam, bei der ich wieder mit dem Freund zusammen traf, merkte ich, dass meine Angst wirklich vergangen war. Die Erinnerung daran war noch da und auch jetzt stand ich ehrfürchtig vor Gott, aber eben ehrfürchtig und ohne Angst.
Später als ich nach dem Abendessen im Speisesaal Klavier spielte stolperte ich über ein Lied, dass mir im letzten Jahr eigentlich gut bekannt geworden war. „No longer slaves“. Ive hatte es mir nach meinem Jahr in Japan vorgestellt und Bill Hybels hatte es beim Willow Creek Leitungskongress als eines seiner absoluten Lieblingslieder vorgestellt, aber jetzt traf mich der Text wie noch nie zuvor:



 Ich bin nicht länger Sklave der Angst. Ich bin ein Kind Gottes.

500 Jahre nach der Reformation ist es vielleicht wichtig sich wieder auf den Aspekt von Gottes Wesen zu besinnen, den wir so häufig anzweifeln: Gottes Gerechtigkeit. Gott ist gerecht. Das ist die Hoffnung dieser Welt und ihres Leids. Weil es Gott gibt dürfen wir wissen, dass kein Unrecht übersehen wird. Weil es Gott gibt, sind unsere Leben nicht sinnlos. Weil es Gott gibt, sind wir nicht allein in unserem Schmerz und unserer Angst. Wir sind nicht länger Sklaven der Angst. Wir sind Gottes Kinder. Wenn er für uns ist, wer will gegen uns sein!

„Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ - 2. Tim 1,7

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